Die Staatsbürgerschaft der österreichischen Reichshälfte wurde im "Vertrag von St. Germain" geregelt, die der ungarischen im "Vertrag von Trianon".
Beides waren de facto Diktate der Siegermächte des 1. Weltkriegs. Die Vertreter Österreichs und Ungarns hatten kein Mitspracherecht bei der Formulierung.
Hier der volle Wortlaut des "Vertrags von St. Germain" in deutscher Sprache:
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000044

Grundsätzlich bekam man die Staatsbürgerschaft dort, wo man das Heimatrecht besessen hat. (Artikel 70; in den folgenden Artikeln einige Einschränkungen)
Der aktuelle Wohnort war dabei unwichtig.
Zumindest zwischen (Deutsch)-Österreich und der Tschechoslowakei hat das auch einigermaßen geklappt.

Österreich und Ungarn waren ja schon seit 1867 (Ausgleich) unterschiedliche Staaten mit jeweils eigenständiger Staatsbürgerschaft. Da gab es klare Verhältnisse.
Auch das Con-Dominium Bosnien-Herzegowina (seit 1908) hatte soetwas wie eine eigene Staatsbürgerschaft und eigene Pässe, ohne ein vollwertiger Staat zu sein.

Damit blieben also noch das neuerrichtete Polen und die stark vergrößerten Königreiche Rumänien (das betraf nur die davor österreichische Bukowina) und Südslawien (Jugoslawien), das betraf nur die Krain (ohne Weißenfels), die Untersteiermark, die abgetrennten Teile Kärntens und den Großteil Dalmatiens, sowie das vergrößerte Königreich Italien (das betraf Südtirol, das Kanaltal mit Weißenfels, Görz und Gradisca, Triest, Istrien und Zara).

Bei dieser Frage muß man die Kriege zur Festsetzung der neuen Grenzen bedenken.
- CSR gegen Ungarn um die Slowakei
- CSR gegen Polen um das ehem. Hztm. Teschen
- CSR gegen Polen um die Grenze in den Nordkarpaten
- Rumänien gegen Ungarn um das Partium
- Ungarn gegen Österreich um Ödenburg und sein Umland
- Die Scharmützel in der Adria zwischen Italien und Südslawien.
- Die vergleichsweise harmlosen Reibereien zwischen Rumänien und Südslawien um die Grenze im Banat.
- Und auch die Kämpfe in Kärnten und in der Radkersburger Gegend gehören wohl in diese Aufstellung.
- Dagegen hat die deutschösterreichische Volkswehr nur punktuell (z.B. in Kaplitz) Widerstand gegen die Besetzung der deutschen Regionen in den Böhmischen Ländern geleistet.

Diese Grenzkriege haben die Bestimmungen des Friedensvertrages teilweise zunichte gemacht.
Angehörige der unterlegenen Seite bzw. der neuen Minderheiten wurden einfach vertrieben und enteignet.
Ein Beispiel ist das der gewählten Stadtvertreter/Patrizier von Marburg an der Drau (slow. Maribor), bis 1920 die zweitgrößte Stadt der Steiermark, 1164 zum ersten Mal als Markburg/Marchburg erwähnt, seit 1192 babenbergisch (österreichisch) und immer ganz überwiegend deutschsprachig (1910: 81%) und seinen ebenfalls deutschsprachigen Umgebungsgemeinden Brunndorf (slow. Studenci), Pobersch (slow. Pobrežje), Thesen (slow. Tezno), Rothwein (slow. Radvanje), Roßwein (slow. Razvanje), Kartschowin (slow. Krčevina) und Leitersberg (slow. Košaki).
Die wurden 1919 von den neuen Machthabern aus der Krain nach Deutschösterreich vertrieben und damit dieser großen deutschen Sprachinsel von mehr als 30.000 Menschen die Vertretung genommen. Vielen deutschen Beamten, Polizisten, Lehrern usw. erging es ebenso. 1921 gab es nur mehr 21,5% Deutschsprachige in Marburg, 1931 nur mehr 8,3%.
Deutschösterreich war der amtliche Name der Republik Österreich bis zum 21. Oktober 1919 (Beschluß des Friedens"vertrages" im Parlament in Wien).
Praktisch alle diese Vertriebenen besaßen das Heimatrecht in Marburg, aber das half ihnen gar nichts.
Das bedeutete für die Vertriebenen einen Sturz ins Bodenlose, war aber immer noch, verglichen mit dem Schicksal der restlichen Deutschen 1945, harmloser.
Denn die 1918/19 Vertriebenen blieben in der Regel am Leben und wurden auch nicht in Internierungslager gesteckt.
Derartige Vertreibungen der neuen Machthaber gab es in fast allen Nachfolgestaaten gegen alle Minderheiten, mit Ausnahme von Österreich selbst. In der CSR durften die meisten Vertriebenen, auch die deutschen Politiker, nach dem Friedensvertrag 1919 wieder zurückkehren.

Der Friedensvertrag enthielt auch eine Optionsklausel. (Artikel 80)
D.h. wer nicht dort Staatsbürger werden wollte, wo sein Zuständigkeitsort nun hingehörte, konnte für die Staatsbürgerschaft eines anderen Nachfolgestaats optieren, falls man ihn dort aufnahm.
Da sich die Republik Deutschösterreich 1918 als Heimat bzw. "Schutzmacht" aller Deutschen in der Donaumonarchie erklärt hatte, war es für die deutschen Minderheiten in der Regel leicht die Österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten. (Staatserklärung vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich der Provisorischen Nationalversammlung für den Staat Deutschösterreich)
https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=spy&datum=1918&page=140&size=45
Ähnliches galt für die Tschechen und Slowaken, Ungarn usw.
So optierten Zehntausende Tschechen mit Heimatrecht in Wien für die CSR, die meisten davon wanderten auch in die CSR aus, wovon sich das Tschechentum in Wien nicht wieder erholt hat.

Damit gab es sowohl in der CSR, wie auch in Österreich zwei Arten von Einwohnern.

1. Angehörige der Minderheit mit Staatsbürgerschaft
2. Angehörige der Minderheit mit (nun) ausländischer Staatsbürgerschaft.

Beides hatte Vor- und Nachteile.
Die Staatsbürger besaßen das Wahlrecht auf allen Ebenen, hatten Anspruch auf soziale Versorgung usw.
Die Ausländer besaßen beides nicht, deren junge Männer mußte dafür auch nicht in der Armee dienen. Das war in Österreich, das von 1920-1936 nur eine kleine Berufsarmee hatte (ebenfalls eine Bestimmung von St. Germain) ziemlich egal, in der CSR aber nicht. Dort mußte auch die jungen Männer der Minderheiten zum Wehrdienst.
Andrerseits konnten Ausländer jederzeit willkürlich ausgewiesen werden. Das geschah in der CSR auch oft, wenn es sich um arme Menschen handelte. Um die Sozialfälle sollte sich Österreich (oder Ungarn usw.) kümmern. Ausländer mit Haus- oder Grundbesitz, Industrielle, Geschäftsleute usw. wurde dagegen kaum ausgewiesen.
Diese Unterscheidung war wiederum 1945 wichtig. Wer vor 1938 die CSR-Staatsbürgerschaft besessen hatte war nun staatenlos, wurde enteignet und vertrieben. Nur wer nachweisen konnte aktiven Widerstand gegen die Nazidiktatur geleistet zu haben, wurde nicht enteignet, aber einige Jahre später mit seinem Eigentum in die DDR abgeschoben.
Diejenigen, dagegen, die bis 1938 die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hatten, erhielten diese 1945 zurück und wurden in der CSR weder enteignet noch vertrieben. Die meisten davon verkauften dann allerdings ihr Eigentum und ging nach Österreich, denn das materielle Leben war nach 1945 in der CSR sicher besser als in Österreich, aber das Leben als kleine deutschsprachige Minderheit in der 1945 ff. rabiat nationalistischen CSR (bzw. ab 1948 CSSR) war nicht gerade erfreulich. Der Putsch der Kommunisten 1948 war dann ein weiteres Motiv zu gehen.

Wie gesagt diese Bestimmung  des Vertrages von St. Germain funktionierte im Wesentlichen nur zwischen Österreich und der CSR einigermaßen. In Polen und Südslawien war das meistens nur Theorie. In Italien funktionierte dieses System bis zur Machtergreifung der Faschisten Mussolinis 1922. Ab dann war die Lage der Deutschen (Südtirol, Kanaltal usw.), der Slowenen und Kroaten sehr schlimm und viele wanderten nach Österreich bzw. Südslawien aus.
In Polen, Südslawien und ab 1922 in Italien wurde das Schulwesen der Minderheiten systematisch zerschlagen, bestenfalls auf wenige Schulen bzw. Parallelklassen reduziert. Damit waren die Lehrer dort überflüssig, viele davon wanderten aus - mit katastrophalen Folgen für die verbliebenen Angehörigen der Minderheiten. Ebenso wurden die meisten Zeitungen der Minderheiten zwangseingestellt, die meisten Vereine aufgelöst usw. Damit wurde die Bildungselite der Minderheiten entfernt.
Einen gewissen Rückhalt behielten die Minderheiten in ihren Kirchen. Das beste Beispiel dafür war das deutsche Schulwesen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Siebenbürgen, das praktisch völlig intakt blieb.
In der CSR geschah das alles weniger schlimm. Die meisten deutschen, ungarischen, polnischen Schulen blieben bestehen, auch die deutsche Karlsuniversität in Prag sowie die beiden deutschen Technischen Hochschulen in Prag und Brünn. Wirtschaftliche Diskriminierungen, Entlassungen von Beamten/Lehrern gab es aber sehrwohl.
In Österreich wurden keine Schulen der Minderheiten aufgelöst, keine Medien, keine Vereine. So blieb hier das gesamte slowenische Schulwesen, Genossenschaftswesen, Kulturwesen usw. der slowenischen Minderheit in Kärnten bestehen. Und die Slowenische Liste stellte bis zum Ende der Demokratie (1934) 2 gewählte Abgeordnete im Kärntner Landtag.
In Wien wurden sogar erstmals öffentliche tschechischsprachige Grundschulen eröffnet. Bis 1918 gab es nur tschechische Privatschulen.

Ein Phänomen sollte man noch erwähnen. Das waren die mehrheitlich deutschen Städte in Mähren (z.B. Brünn, Olmütz, Iglau), aber auch Znaim usw., die ab 1919 konsequent durch die Zwangseingemeindungen tschechischsprachiger Nachbargemeinden tschechisiert wurden. Dieser Wechsel in der Stadtverwaltung hatte vor allem kulturell und wirtschaftlich massive Auswirkungen. So wurden beispielsweise die jeweiligen Stadttheater, die bis dahin hauptsächlich auf deutsch gespielt hatten, tschechisiert. In einer Zeit noch ohne Radio, Fernsehen, Internet usw. hatte das weitreichende soziale Folgen. Zwar erhielten die deutschen städtischen Minderheiten meist das Recht 1-2 mal pro Woche deutsche Aufführungen zu veranstalten, aber damit konnte man kein Ensemble mehr bezahlen. Eine Zeitlang pendelten die deutschen Schauspieler dann jede Woche zwischen den einzelnen Städten, aber auch das war langfristig keine Lösung. So beschränkte sich das deutsche Theaterwesen in der Folge auf die Aufführungen in den jeweiligen "Deutschen Häusern", die Vereinen gehörten.
Wirtschaftlich bedeutete der Wechsel, daß nun die meisten städtischen Aufträge an tschechische Firmen gingen. Das führte zu einer allmählichen Abwanderung von Firmen und Handwerkern in die mehrheitlich deutschen Randgebiete, nach Österreich und ins Deutsche Reich.
Städte wie Brünn, Olmütz, Iglau, Znaim, aber auch Böhmisch Budweis änderten so binnen weniger Jahre ihr "Gesicht". Auf den Straßen, in den meisten Geschäften und Lokalen wurde nun Tschechisch gesprochen. Das führte zur allmählichen Abwanderung vieler einheimischer Deutscher - ohne unmittelbaren Zwang, sondern einfach, weil sie sich nicht mehr heimisch fühlten.
Der Physiker Kurt Gödel aus Brünn, später ein Kollege von Albert Einstein in Harvard, war ein Beispiel dafür. Er besaß das Heimatrecht in Brünn und war ab 1919 CSR-Bürger. Aber 1924 ging er zum Studium nach Wien und nahm 1929 die Österreichische Staatsbürgerschaft an, denn er fühlte sich wie ein „österreichischer Verbannter in Tschechoslowakien“.

Für Mähren sollte man auch erwähnen, daß die 26 Judengemeinden, das waren eigenständige politische Gemeinden mit mehrheitlich deutscher Umgangssprache, ab 1918 staatlicherseits mit den jeweiligen (Christen)-Gemeinden fusioniert wurden. Damit wurden viele davon, z.B. Lundenburg, tschechischsprachig. Auch das war ein Motiv zur Abwanderung.

Aus der alten Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn entstanden 1918/20 mehrere kleinere Vielvölkerstaaten, die aber nun Nationalstaaten sein wollten.
Das im österreichischen Reichsteil vorbildliche Minderheitenwesen, wo jede Volks- und Sprachgruppe eigene Schulen, Medien, Vereine und Parteien hatte, wurde weitgehend zerschlagen. Mit Ausnahme von Österreich selbst, wo es auch nur mehr sehr kleine Minderheiten gab, wurde die Lage für die ethnischen und sprachlichen Minderheiten in allen Nachfolgestaaten schlimmer. In der CSR und Rumänien moderat, in Südslawien, Polen und ab 1922 in Italien massiv.
Aber es gab ja nun Nationalstaaten, in die Minderheiten auswandern konnten.
Das galt aber nur für Deutschösterreicher, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Rumänen, Serben, Kroaten, Slowenen und Italiener. Alle kleinen Völker und Sprachgruppen, die im alten Österreich durchaus geschützt waren, standen nun ziemlich hilflos da. Das galt auch und vor allem für die mehr als 2 Millionen Juden (fast 5% der Gesamtbevölkerung). Sie hatten keinen Nationalstaat, Israel gab es noch nicht, und sie waren überall bestenfalls geduldet. Viele jiddisch- und deutschsprachigen Juden, vor allem aus der Bukowina und Galizien, versuchten nach Österreich zu emigrieren, was durch das Optionsrecht im Friedensvertrag auch gedeckt war. Viele waren auch, als Flüchtlinge vor der russischen Besetzung des Ostens während des Krieges, bereits in Österreich, besonders in Wien und blieben, was im hungernden Nachkriegswien, in dem 1918-1920 viele arme Leute kaum überleben konnten bzw. buchstäblich verhungert sind, nicht auf viel Verständnis traf. Damit erlebte der Zionismus mit dem Wunsch der Auswanderung nach Palästina einen ersten Höhepunkt.
Aber auch andere Minderheiten, z.B. die verschiedenen Zigeunervölker, erlebten in den Nachfolgestaaten schlimme Zeiten.
Ein letztes Beispiel: Die Ladiner verloren, wie die Deutsch-Südtiroler, ab 1922 ihre Schulen, Zeitungen, Vereine usw.

Das ist natürlich nur eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse.
Es gäbe noch viel zu sagen.

Alle Leser sind herzlich eingeladen, mir Ergänzungen mitzuteilen und mich auf Fehler und Irrtümer meinerseits aufmerksam zu machen:

Günter Ofner
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