'Sudetendeutsche' ist ein relativ junger Begriff für die Deutschsprechenden in den Böhmischen Ländern (Böhmen, Mähren, Österreichisch Schlesien) sowie den 1918/20 an die CSR abgetretenen Randgebieten Niederösterreichs (Gmünder Gebiet, Feldsberger Ländchen) und Preußisch Schlesiens (Hultschiner Ländchen).
Ob der Begriff auch für die Deutschsprachigen des Ostens des Teschener Landes (Bielitz usw.) galt/gilt, das 1918/20 zu Polen kam, ist umstritten.
 

Der davor weitgehend unbekannte Begriff 'Sudetendeutsche' bezieht sich auf das langgezogene Sudetengebirge im Nordosten Böhmens (vom Lausitzer Gebirge und Bergland sowie dem Jeschken-Kamm nach Osten), im Norden Mährens (u. a. Schönhengst) und im Westen von Österreichisch Schlesien (inkl. Altvatergebiet und Gesenke), das bis 1946 weitgehend von Deutschen bewohnt war. Es setzt sich im benachbarten Sachsen und Preußisch/Polnisch Schlesien fort.
Der Begriff 'Sudetendeutsche' wurde vom deutschnationalen Publizisten und Kulturgeographen Franz Jesser (1869, Zwittau in Mähren - 1954, Frankfurt am Main) im Jahr 1902 für die deutschsprachige Bevölkerung in Böhmen und Mähren geprägt und dann intensiv beworben.
Der Begriff war und ist problematisch, da in dieser Region nur ein kleiner Teil der Deutschen in den Böhmischen Ländern ansässig war. Erzgebirgler, Egerländer, Böhmerwälder, Südmährer, um hier nur einige Gruppen zu nennen, sowie die Deutschen in den Sprachinseln (Iglau, Brünn, Olmütz, Wischau, Wachtl, Prag, Pilsen, Budweis usw.) sowie die im Lande verstreut wohnenden Deutschen hatten mit dem Sudetengebirge nichts zu tun.

Schon davor hatten die Österreichischen Behörden die österreichische Reichshälfte ('Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder') in vier statistische Regionen unterteilt:
- Alpenländer: Niederösterreich (inkl. Wien), Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol und Vorarlberg
- Sudetenländer: Böhmen, Mähren und Österreichisch Schlesien
- Karpatenländer: Galizien und Bukowina
- Karstländer: Krain, Görz und Gradisca, Triest, Istrien und Dalmatien

Jesser dürfte den Begriff davon abgeleitet haben.

Davor war die Selbst- und Fremdbezeichnung 'Deutschböhmen', 'Deutschmährer' und 'Deutschschlesier'.
Diese Begriffe waren rein auf die Sprachzugehörigkeit ausgerichtet gewesen, beinhalteten also alle einheimischen Deutschsprachigen, egal welcher Konfession.
'Sudetendeutsche' im Sinne Jessers war dagegen ein nationaler Begriff und schloß alle deutschsprachigen Juden aus. Diese waren besonders in den Städten im Landesinneren oft das Rückgrat der Deutschen gewesen. Die Prager Juden sind da ein eindrucksvolles Beispiel.
D.h. dieser neue Begriff Jessers, der die Zusammenfassung aller Deutschen und damit deren politische Stärkung zum Ziel gehabt hatte, war also langfristig eher eine Schwächung.

Der Begriff 'Sudetendeutsche' setzte sich erst nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain en Laye (1919) durch, dann aber recht rasch.

STAATSANGEHÖRIGKEIT

Vor 1806:
Praktisch alle Deutschböhmen, Deutschmährer und Österreichisch
Schlesier waren Staatsbürger (Untertanen) des 'Heiligen Römischen Reiches' bzw. dessen König oder Kaiser und des jeweiligen Königs von Böhmen.
Das galt natürlich auch für alle Tschechen, Polen, Kroaten usw. dort.
 
1804 - 1867:
Mit der Gründung des 'Kaiserthums Österreich' wurden praktisch alle Deutschböhmen, Deutschmährer und Österreichisch Schlesier (auch) Staatsbürger(Untertanen) des jeweiligen österreichischen Kaisers.
Von 1804 bis 1806 gab es das 'Heilige Römische Reich' und das 'Kaiserthum Österreich' nebeneinander bzw. überlappend. Da Kaiser Franz II./I. beide Kronen innehatte war das aber kein Problem.
Das galt wiederum auch für alle Tschechen, Polen, Kroaten usw. dort.
 
1867 - 1918/20:
Seit dem 'Ausgleich' mit Ungarn waren Österreich und Ungarn jeweils eigenständige Staaten mit einigen gemeinsamen Institutionen (z.B. Außenpolitik, gemeinsame Armee - k.u.k.).
Damit waren praktisch alle Deutschböhmen, Deutschmährer und Österreichisch Schlesier Staatsbürger/Untertanen des österreichischen Kaisers - aber nun der 'österreichischen Reichshälfte'.
Amtlicher Name bis 1915: 'Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder'
Praktische Bezeichnung: 'Österreich'
Das galt wiederum auch für alle Tschechen, Polen, Kroaten usw. dort.

Es gab aber natürlich auch Ausländer aus Bayern, Sachsen, Preußen usw. und ab 1871 aus dem neugegründeten Deutschen Reich, der Schweiz, Ungarn, Polen, Rußland usw. in Böhmen, Mähren und Österreichisch Schlesien.
 
1918 - 1920:
Am 12. November 1918 wurde in Wien die 'Republik Deutschösterreich' ausgerufen. Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats= und Regierungsform von Deutschösterreich (Staatsgesetzblatt 1918 Nr. 5, Seite 4)
Deren Parlament definierte am 22. November 1918 das geschlossene deutsche Sprachgebiet in der österreichischen Reichshälfte als ihr Staatsgebiet, weiters auch die deutschen Sprachinseln (Einschlußgebiete) Iglau, Brünn und Olmütz. Der Osten Österreichisch Schlesiens sollte, vermehrt um Mährisch Ostrau und dem galizischen Biala und seiner deutschen Nachbardörfer von Deutschösterreich, der Tschechoslowakei und Polen gemeinsam verwaltet werden. Die 'Republik Deutschösterreich' sollte Teil des demokratischen 'Deutschen Reiches' ('Weimarer Republik') werden. Gesetz und Staatserklärung vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich (Staatsgesetzblatt 1918 Nr. 40 und 41, Seite 51)
Der Gebietsumfang wurde wie folgt definiert Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates vom 3. Jänner 1919 über die das deutschösterreichische Staatsgebiet bildenden Gerichtsbezirke, Gemeinden und Ortschaften (Staatsgesetzblatt 1919 Nr. 4, Seite 5)
Druckfehlerberichtigung: Kundmachung des Staatskanzlers im Einvernehmen mit dem Staatssekretär des Inneren vom 12. Mai 1919, betreffend die Berichtigung von Druckfehlern im Staatsgesetzblatte (Staatsgesetzblatt 1919 Nr. 266, Seite 633).
Das entsprach durchaus dem Willen der betroffenen Bevölkerung, wie die nachfolgenden Wahlen in der CSR zeigen sollten.
 
Es war aber bald nur Theorie, denn die Armeen Italiens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens besetzten weite Teile dieses geschlossenen deutschen Sprachgebietes mit etwa 4 Millionen Einwohnern. Widerstand dagegen wurde gewaltsam unterdrückt. Die konstituierende Nationalversammlung Deutschösterreichs erhob dagegen zwar "feierlichen Einspruch" Gesetz vom 12. März 1919 über das besetzte Staatsgebiet (Staatsgesetzblatt 1919 Nr. 175, Seite 399), das war Allparteienkonsens, änderte aber nichts an der Lage.

21. Sept. 1919 ratifizierte das Wiener Parlament (gezwungenermaßen) und unter Protest den 'Staatsvertrag von St. Germain en Laye vom 10. September 1919' (Staatsgesetzblatt 1920 Nr. 303, Seite 995). 'Deutschösterreich' verzichtete damit auch auf die sudetendeutschen Gebiete, löste die sudetendeutschen Exil-Behörden in Wien auf, strich den Anschlußwunsch aus der Rechtsordnung und änderte den Staatsnamen auf 'Republik Österreich'. Der Vertrag trat am 16. Juli 1920 in Kraft. Damit lebten alle Sudetendeutschen in der CSR.


1918/20 - 1938:
Mit dem Inkrafttreten des 'Vertrags von St. Germain' (Gründung der CSR) nahmen die meisten Deutschen mit Heimatrecht in den Böhmischen Ländern sowie den ehemaligen Teilen Niederösterreichs und Preußens (Hultschiner Ländchen) die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an und waren damit vollwertige Bürger der CSR.

Die Sudetendeutschen konnten aber auch die Deutschösterreichische Staatsbürgerschaft erwerben (Optionsmöglichkeit), weil sich die Republik Österreich als Mutterland aller Deutschen in der ehemaligen Monarchie sah.
Das war übrigens unabhängig von der Konfession (katholisch, evangelisch, jüdisch, altkatholisch, konfessionslos usw.). Diese Menschen riskierten damit aber auch die Ausweisung aus der CSR.

Wer 1919 das Heimatrecht im betreffenden Staat hatte, besaß einen Rechtsanspruch auf die Staatsbürgerschaft mußte also nicht um die Staatsbürgerschaft ansuchen.
Wer sein Heimatrecht anderswo hatte, aber bleiben wollte, mußte ansuchen.
Meine Großeltern beispielsweise hatten das Heimatrecht immer noch im Geburtsort des Großvaters in Höritz in Südböhmen, lebten aber in Niederösterreich. Sie mußten um die österr. Staatsbürgerschaft ansuchen.

Viele Deutschen, die trotz Heimatrecht anderswo in der Monarchie in der CSR lebten, wurden 1918/19 ausgewiesen.
Viele österreichische Staatsbeamte (inkl. Post, Bahn, Lehrer, Tabakregie usw.) und ihre Familien mußten auswandern und gingen in der Regel nach Österreich.

Daneben gab es weiterhin auch eine Minderheit von Ausländern aus dem Deutschen Reich, Österreich usw. in der CSR.
 
1938:
Nach der reichsdeutschen Besetzung erhielten die meisten Sudetendeutschen und Österreicher, aber auch die meisten Tschechen im 'Reichsgau Sudetenland', sowie in Südböhmen und Südmähren die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft.
Juden und Regimegegner waren davon ausgenommen, wer nicht rechtzeitig flüchten konnte oder von den CSR-Behörden ausgeliefert wurde, landete im Gefängnis oder KZ.
Die Deutschböhmen und Deutschmährer im Landesinnern blieben CSR-Bürger.
 
1939:
Nach der reichsdeutschen Okkupation des Landesinneren 'Protektorat Böhmen und Mähren' erhielten auch die Deutschen dort die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft. Juden und Regimegegner wieder ausgenommen.
Damit mußten auch diese Deutschen aus Prag, Budweis, Pilsen, Brünn, Olmütz, Iglau, Wischau usw. zur Deutschen Wehrmacht einrücken.
Die tschechischen Bewohner des 'Protektorates' waren keine deutschen Staatsbürger.
 
1945:
Mit dem Ende des nationalsozialistischen 3. Reiches und der Wiedererstehung der CSR erhielten alle Sudetendeutschen, die sich bei der Volkszählung von 1930 zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannt hatten, bzw. auch deren Nachkommen, die nicht nachweisen konnten die NS-Herrschaft aktiv bekämpft zu haben, die CSR-Staatsbürgerschaft nicht zurück und wurden kollektiv enteignet und vertrieben bzw. geplant über die Grenzen abgeschoben (Benes-Dekrete).
Diejenigen, die bis 1938 Österreicher waren, erhielten die österreichische Staatsbürgerschaft zurück und wurden weder enteignet noch vertrieben.
 
Damit hatte der Großteil der Sudetendeutschen schlagartig gar keine Staatsbürgerschaft mehr und war entsprechend rechtlos. In den Staaten bzw. Gebieten in die sie geflüchtet oder deportiert worden waren (Österreich, wiedergegründet 1945, BRD und DDR gegründet 1949) war die Situation unterschiedlich. In den deutschen Ländern vor 1949 waren sie "den Deutschen gleichgestellt", in Österreich aber Ausländer. In der BRD und der DDR waren sie damit ab 1949 (Staatsgründungen) deutsche Staatsbürger, in Österreich mußten sie um die Staatsbürgerschaft ansuchen, was in der Regel auch bewilligt wurde.
Da man anfangs auf die Rückkehr in die Heimat hoffte, haben viele das erst nach Jahren oder auch gar nicht getan. Damit erhielten die meisten erst im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre die österreichische, bzw. die nach Übersee Ausgewanderten die kanadische, argentinische usw. Staatsbürgerschaft.
 
Diejenigen Sudetendeutschen, die 1945 ff beweisen konnten, daß sie aktiven Widerstand gegen die deutschen Nationalsozialisten geleistet hatten, meistens Aktivisten der deutschen Sozialdemokraten und der Kommunisten, wurden 1945 nicht enteignet und durften vorläufig in der CSR bleiben. Die meisten von ihnen wanderten später in die DDR oder die BRD aus, durften dabei aber ihr Eigentum mitnehmen.

Etwa 250.000 Sudetendeutsche verblieben nach 1949 in der CSSR. Das waren einerseits unersetzbare Spezialisten, auch Zwangsarbeiter (z.B. in den Bergwerken) und Ehepartner von Tschechen, die die Scheidung abgelehnt hatten. Ein großer Teil davon wanderte in den folgenden Jahrzehnten nach Deutschland aus. Der verbliebene Teil war ab 1945 staatenlos und erhielt ab 1948 eine Einbürgerungsmöglichkeit in die CSSR. Wer davon nicht Gebrauch gemacht hatte wurde 1953 zwangseingebürgert.
 
Das ist natürlich nur ein grober Überblick.
 
 
Wie entscheidend die Volkstumszugehörigkeit bei der Volkszählung 1930 war zeigt das Beispiel der Fürstenfamilien Schwarzenberg und Liechtenstein.
 
Die Fürstenfamilie Schwarzenberg hatten sich 1930 als Tschechen deklariert. Sie wurde 1945-1947 nicht enteignet, sehrwohl aber dann 1948 durch die Kommunisten. Die Familie lebte dann jahrzehntelang in Wien, behielt aber die CSSR-Staatsbürgerschaft und erwarb zusätzlich die der Schweiz.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 erhielt sie große Teile des ehemaligen Besitzes zurück, darunter auch drei Schlösser.

Die Fürstenfamilie Liechtenstein hatten sich 1930 als Deutsche deklariert. Sie wurde 1945 (Benes-Dekrete) enteignet und erhielt bislang nichts aus ihrem ehemaligen Besitz zurück. Die Familie lebte schon seit 1938 in Liechtenstein.

Ähnlich erging es manchen jüdischen Deutschen, die sich 1930 als Deutsche deklariert hatten. Sie überlebten die Verfolgung durch die deutschen Nationalsozialisten, kamen in die CSR zurück und wurden dann als Deutsche enteignet und vertrieben.

 

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Günter Ofner
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